Was ist neu in der Holacracy Verfassung 5.0?

Brian Robertson gibt einen Ausblick auf die Holacracy Verfassung 5.0 auf dem Holacracy Forum 2019

“Eine gute Verfassung ist unendlich besser als der beste Despot.”

-Thomas B. Macaulay

In der aktuellen Holacracy Verfassung 5.0 sind viele Dinge gegenüber Version 4.1 neu, bzw. grundlegend anders geregelt. Man kann den Großteil der Veränderungen grob in fünf Kategorien einordnen:

  • flexibler
  • einfacher
  • klarer
  • dezentraler
  • menschlicher

Daneben gibt es noch viele kleinere Änderungen, die hier aber nicht im Detail vorgestellt werden.

Hinweis: Verfassung 5.0 ist zwar noch nicht offiziell als Release veröffentlicht worden, ist aber seit mindestens einem Jahr von HolacracyOne vorangekündigt worden und seitdem gefühlt zu 99% fertig mit nur minimalen Änderungen. Entsprechend wird auch bereits von einem Konsortium aus Providern und Anwendern an der deutschsprachigen Übersetzung gearbeitet, die dann so bald wie möglich zusammen mit dem Original veröffentlicht werden soll. Da die Übersetzung ebenfalls noch nicht final ist, sind die im Text genannten Begriffe ebenfalls als vorläufig zu betrachten. 

1) flexibler


Modularität der Artikel zur Unterstützung gradueller / partieller Implementierungen

Die Struktur und Gruppierung der Artikelinhalte wurde generalüberholt mit dem Ziel, eine modulare Implementierung der Regeln der einzelnen Artikel zu unterstützen. Auf diese Weise sollen Organisationen in die Lage versetzt werden, Holakratie Stück für Stück, Artikel um Artikel, in beliebiger Reihenfolge einzuführen. Alternativ kann es auch bei einer partiellen Implementierung bleiben, bei der nur die gewünschten Module eingeführt werden, was interessante neue Spielarten ermöglicht und Holakratie neuen Interessenten schmackhaft machen könnte, denen der bisherige alles-oder-nichts-Ansatz der Implementierung zu radikal erscheint.

Voraussetzung für eine partielle Implementierung ist lediglich die Annahme des Artikels 1), welcher die Struktur der Organisation in Form von Rollen, Kreisen, Domänen, etc. definiert und damit das Minimum einer gemäß einer Verfassung geregelten Organisation festlegt. Brian Robertson sieht alleine schon in der Explizierung der Struktur, verbunden mit der Befugnis eines Rollenträgers, den Purpose und die Verantwortlichkeiten seiner Rollen nach eigenem Ermessen zu interpretieren, einen großen Teil des durch die Holakratie katalysierten „Power-Shifts“ begründet.

Neue Rollennamen

Auf der Oberfläche springen die neuen Rollennamen ins Auge: für die deutsche Übersetzung „Moderator“ (statt „Facilitator“), „Kreis-Lead“ (statt „Lead Link“) und „Kreis-Rep“ (statt: „Rep Link“). Komplett neu ist der „Rollen-Lead“ („Role Lead“), der den Begriff „Rollenfüller“ überflüssig macht.

Annäherung von Rolle und Kreis

Der Name „Rollen-Lead“ im Verhältnis zu „Kreis-Lead“ verdeutlicht zudem eine weitere Neuerung der Verfassung 5.0: Rolle und Kreis nähern sich konzeptuell noch stärker aneinander an, was in der Formulierung kulminiert „Jede Rolle ist in sich auch ein Kreis“. Jede Rolle darf sich intern wie ein Kreis aufstellen und sich eigene Rollen und Richtlinien schaffen, um seine Arbeit zu organisieren (1.4.1). Dazu passt, dass die Schaffung von Sub-Kreisen keiner Governance-Entscheidung „von oben“, d.h. vom Super-Kreis mehr bedarf, sondern dass jede Rolle befugt ist, in Bezug auf die innere Strukturierung zu tun, was sie für richtig hält. Daher fehlt dieser Output jetzt auch auf der Liste der zulässigen Governance-Outputs unter 5.2 (a). Das erhöht die Flexibilität und die Autonomie von Rollen, die Mittel zum Ausdruck ihres Purpose selber zu gestalten.

Hierdurch wird es also nun auch möglich, dass eine multi-gefüllte Rolle sich in ihrem inneren Kreis Richtlinien auferlegt oder weitere Rollen schafft, ohne dass es von oben erlaubt werden muss und ohne dass ab dem Moment nur noch eine Person als Kreis-Lead fungiert. Die Verfassung erlaubt es also nun de facto mehrere Kreis-Leads zu haben (die aus Sicht der Super-Kreises weiterhin multiple Rollen-Leads sind). Insgesamt wird dadurch die evolutionäre Entwicklung einer Rolle bis hin zu einem Kreis vereinfacht.

Jeder darf jeden zu Tactical Meetings einladen

Nicht nur der Secretary, sondern auch jeder andere Rollen-Lead darf jetzt Tactical Meetings mit den Rollen ansetzen, die er dafür braucht – sogar über Kreisgrenzen hinweg. Der Einladende darf für die Durchführung Unterstützung beim Moderator anfragen, dessen Verantwortlichkeit entsprechend erweitert wurde. Dadurch wird das Format „Tactical Meeting“ verbreitert und flexibler nutzbar gemacht. Niemand muss mehr beim Secretary für ein zusätzliches Tactical Meeting werben. Man kann es einfach selber einberufen.

Asynchroner Wahlprozess

Die Verfassung 5.0 definiert, wie ein asynchroner Wahlprozess abzulaufen hat und erspart den Praktizierenden damit, sich selber eine entsprechende Richtlinie pro Kreis aus den Fingern zu saugen – sofern sie überhaupt auf die Idee kommen. Auch hierdurch werden Organisationen flexibler, denn sie sind nicht mehr auf synchrone Wahlprozesse innerhalb von Meetings angewiesen.

Eingrenzung der Anzahl nicht erforderlicher Kreis-Reps

Auf zwei Weisen hilft die neue Verfassung dabei, die Anzahl der Kreis-Reps (ehemals “Rep-Links”) aus Sub-Kreisen in einem Kreis einzuschränken. Erstens, sie macht die Wahl eines Kreis-Reps selbst spannungsgetrieben: zwar darf jeder jederzeit die Wahl oder Neuwahl eines Kreis-Reps verlangen, doch Kreis-Reps werden nicht mehr standardmäßig beim ersten Governance-Meeting eines Kreises gewählt. Mit anderen Worten: so lange sie niemand benötigt, werden sie auch nicht geschaffen und besetzt. Zweitens regelt die Verfassung jetzt, dass die Super-Kreise, in denen die Kreis-Reps dann entsandt werden, die Anzahl der Kreis-Reps im Kreis einschränken dürfen, solange sie ihnen eine alternative Weise zur Verarbeitung ihrer Spannungen einräumen. Diese neuen Regelungen dürften gerade für größere Kreise mit vielen Sub-Kreisen für eine übersichtlichere Zahl von Teilnehmern und somit effizientere Meetings sorgen.

2) einfacher


Keine Cross-Links mehr

Das „Cross-Link“ Rollen-Konstrukt entfällt in Verfassung 5.0 komplett. Es wird ersetzt durch Artikel 1.4.4, der die Verlinkung von Rollen in andere Kreise hinein regelt. Wenn ein Kreis eine solche Verlinkung in ihren Kreis von außen erlauben will, so erlässt sie eine solche Erlaubnis einfach durch eine entsprechende Richtlinie. Dies hat den zusätzlichen Vorteil, dass diese Verlinkung flexibler ist und eine freie Definition der Verantwortlichkeiten der verlinkten Rolle durch Herkunfts- und Zielkreis möglich ist.

Entschlackung der Kreis-Lead Rolle

Was früher „Lead Link“ hieß und mehrere Verantwortlichkeiten hatte, hat jetzt nur noch einen Purpose. Die Domäne für Rollenbesetzung bleibt, doch alle ehemaligen Verantwortlichkeiten sind nun in diverse Artikel ausgelagert worden und immer noch aktivierbar, jedoch in anderer Weise. Die Kreis-Lead Rolle soll sich nun vor allem auf ihren Purpose ausrichten, der sie ja ebenfalls zur Aktivierung der ehemaligen Verantwortlichkeiten befugt. Das Fehlen der Verantwortlichkeiten in der Rollenbeschreibung verdeutlicht implizit, dass die Rolle eigentlich nicht viel operative Tätigkeiten ausführt, sondern in erster Linie auf das Ganze des Kreises im Sinne des Purpose schaut. Zudem ist es ein Schritt in Richtung Dezentralisierung der Kreis-Lead Rolle, die unten noch gesondert beschrieben wird.

Entschlackung der Kreis-Rep Rolle

Auch die ehemalige Rep Link Rolle, nun umbenannt in „Kreis-Rep“, wurde entschlackt. Der lange, komplizierte Purpose aus Version 4.1 wurde vereinfacht und die Verantwortlichkeit, Sichtbarkeit gegenüber dem Super-Kreis in Bezug auf die Gesundheit des Sub-Kreises zu geben, wurde entfernt. Durch Entfernung dieser ‚Arbeitsbeschaffungsmaßnahme‘ wird nur legitimiert, was ohnehin in den meisten Fällen geschieht: der Kreis-Lead berichtet in Tactical-Meeting über die operativen Details, weil es sich nicht lohnt, dass der Kreis-Rep nur für diesen kurzen Einsatz auftritt. Er darf natürlich noch weiterhin teilnehmen, doch in der Praxis tritt der Kreis-Rep nur innerhalb von Governance Meetings des Super-Kreises in Erscheinung und auch nur, falls er eine Spannung vertreten soll.

Vereinfachter Zugriff auf Domänen

Musste man unter Version 4.1 immer den Domäneninhaber fragen, ob man auf seine Domäne einwirken darf, so ermöglicht Version 5.0 nun einen anderen Weg. Wer einen Zugriff beabsichtigt, kündigt diese Intention in einem öffentlichen Kanal oder Forum an, das alle Domäneninhaber normalerweise regelmäßig prüfen. Nach einer gewissen Zeit ohne Widerspruch darf man annehmen, dass keine Bedenken gegen den Zugriff bestehen und darf auf die Domäne in der angekündigten Weise einwirken.

Vereinfachter Zugriff auf Ressourcen

Auch die Befugnis, um Ausgaben zu tätigen, läuft unter Version 5.0 nach einem ähnlichen Schema ab: die Intention wird angekündigt, wo sie normalerweise gelesen wird. Gibt es keine Bedenken, so dürfen die Ausgaben getätigt werden. Gibt es jedoch Bedenken, so findet eine Eskalation statt. Die eskalierende Rolle oder der Rollen- bzw. Kreis-Lead der Rolle dürfen eine solche Eskalation jedoch wieder zurücknehmen und die Mittel freigeben. Der Kreis-Lead hat zwar keine Domäne mehr auf Ressourcen, kann jedoch mittels Eskalation, bzw. Rücknahme einer solchen, immer noch besonderen Einfluss auf die Ressourcenverwendung nehmen.

3) klarer


Empowerment des individuellen Urteilsvermögens durch die Verfassung

Die Befugnis für alle Rollen-Leads, den Purpose und Verantwortlichkeiten ihrer Rolle frei zu interpretieren zu dürfen, solange die daraus resultierende Handlung die Regeln der Verfassung nicht verletzt, ist jetzt deutlicher artikuliert. Das vernünftige Urteilsvermögen eines Rollen-Leads wird deutlicher ins Zentrum gerückt und darf explizit nicht nur zur Interpretation der eigenen Rolle und Verantwortlichkeiten, sondern auch für Priorisierungsentscheidungen in der Rolle, als auch in Bezug auf die Interpretation der Regeln der Verfassung selber genutzt werden. Das alles war zwar vorher auch schon der Fall, doch waren die Textstellen über verschiedene Artikel verteilt. Die Bündelung macht es in dieser Version der Verfassung wesentlich deutlicher.

Pflichten mit selbsterklärenden Überschriften

Erfreulich ist, dass man als Nutzer der Verfassung 5.0 bei einigen Artikeln schon aus der Überschrift direkt ablesen kann, was von einem als Rollen-Lead erwartet wird. So heißen die Überschriften pointiert „Verstoße nicht gegen Richtlinien“, „Hole Erlaubnis ein, bevor du auf Domänen einwirkst“ und „Hole dir Befugnis ein, bevor du Ausgaben tätigst“. Klarer geht es nicht.

Pflichten als Rollen-Lead gegenüber anderen

In Verfassung 4.1. bestanden die Pflichten von Rollen-Leads nur gegenüber den Mitgliedern seines Kreises, nicht aber gegenüber kreisfremden Rollen-Leads. Diese Beschränkung ist nun aufgehoben. Transparenzplicht, Verarbeitungspflicht etc. gilt in Verfassung 5.0 nun gegenüber allen anderen Rollen-Leads aus der gesamten Organisation.

Artikel, die durch Richtlinien anders geregelt werden dürfen, sind gekennzeichnet

Mit Richtlinien hat man ein flexibles Governance Konstrukt, um sich selber Regeln maßschneidern zu können – auch solche, die den Regeln der Verfassung mitunter zuwiderlaufen. In Version 4.1 war teilweise unklar, welche solcher Regeln zulässiger Governance Output sind. Aus diesem Grund weist Version 5.0 jeweils sehr klar aus, welche der in den Artikeln der Verfassung beschriebenen Standard-Prozesse durch selbst-definierte Richtlinien (und unter welchen Einschränkungen) verändert werden dürfen, und welche nicht.

Deadlines müssen als offizielle Priorisierungen interpretiert werden

Das „planen-und-kontrollieren“-Mindset ist ein Problem für Organisationen, die mit Holakratie anfangen. Wie soll man mit Deadlines umgehen, wenn doch jeder Rollen-Lead die Priorisierungen seiner Rolle selber steuern darf? Die bloße Festlegung einer Deadline bewirkt zudem natürlich auch unter dem neuen Framework Holakratie nicht auf magische Weise, dass man sie erreicht. Gleichwohl ist die Ausrufung von Deadlines manchmal sinnvoll oder in objektiven Rahmenbedingungen begründet, die man nicht kontrollieren kann. Die Verfassung 5.0 erleichtert den Usern den Umgang mit Deadlines, indem sie eine Best-Practice institutionalisiert: Es wird klargestellt, dass man Deadlines nicht notwendigerweise einhalten muss (was ohnehin eine realitätsnahe Haltung ist), doch dass sie wie offizielle Priorisierungen interpretiert werden müssen. Als eine solche haben jegliche Schritte zu ihrer Realisierung relativen Vorrang vor aller anderen Arbeit.

„Auszeit“ („Time-Out) wird definiert

Was in der Praxis implizit immer schon erlaubt und auch so gelehrt wurde, wird jetzt in der Verfassung 5.0 erstmalig auch ausbuchstabiert. Der Abschnitt über den Meeting Prozess des Governance Meetings erklärt, was eine „Auszeit“-Pause ist („Time-Out“), sowie welche Regeln dabei gelten.

Klärungen im Governance-Prozess

Im Governance-Prozess wurden mehrere Details geklärt.

1) Nicht „Einwände“ werden getestet, sondern „Bedenken”

Eine Veränderung, die wir bei Hypoport bereits durch die Herausgabe einer neuen Version unserer Facilitationkarten angeregt haben, betrifft eine sprachliche Präzisierung. Wurden in Version 4.1. noch „Einwände“ auf Gültigkeit getestet, so werden in Version 5.0 jetzt „Bedenken“ daraufhin getestet, ob sie die Voraussetzungen erfüllen, um als „Einwände“ gegen einen Vorschlag gewertet zu werden („Einwandskriterien“ werden dadurch zu „Einwandsvoraussetzungen“). Einwände sind nunmehr per Definition immer „gültig“, sofern sie die vier bekannten Voraussetzungen erfüllen, weshalb das Wort „gültig“ in Zusammenhang mit „Einwänden“ als redundant entfallen ist. (Der Anregung der hola::be Coaches, das Wort „Einwände“ komplett aufzugeben und jeweils durch „Sicherheitsbedenken“ und „zu integrierende Schäden“ zu ersetzen, ist die Verfassung hingegen in dieser Version (noch) nicht gefolgt.)

2) Reihenfolge der Einwandsvoraussetzungen (Kriterien) ist neu

Obwohl die Reihenfolge der Einwandsvoraussetzungen technisch gesehen nicht bindend für ist für einen Moderator (ehemals „Facilitator“) ist (oder war), spielt die Reihenfolge natürlich während der Testung von Bedenken dennoch eine wichtige Rolle. Die Verfassung wirkt hier weichenstellend. Was vormals Kriterium d) war, die Frage nach der Rolle des Einwendenden, rückt in Version 5.0 der Verfassung an die zweite Stelle als Einwandsvoraussetzung b). Die anderen rücken entsprechend um eine Stelle nach hinten. Der Sinn dieser Änderung ist es, den Testungsprozesse kürzer und damit effizienter zu machen, zumal durch die Frage nach der Rolle viele Bedenken aussortiert werden. Diese Veränderung ist auch schon vorher in die überarbeiteten Facilitationkarten von Hypoport eingeflossen.

3) Einwandsvoraussetzungen (Kriterien) sind geschärft

  • Kriterium a) wurde gekürzt und vereinfacht.
  • Was vorher Kriterium d) war, ist nun Voraussetzung b) und wurde mit einem ergänzten Halbsatz nachgeschärft: „Der Vorschlag würde die Fähigkeit des Einwendenden einschränken, den Purpose oder eine Verantwortlichkeit einer Rolle zu erfüllen, die der Einwendende im Kreis vertritt, selbst wenn der Einwendende keine anderen Rollen in der Organisation ausfüllen würde.“ Dies hilft dabei, eine Kategorie von Bedenken zu herauszufiltern, die auf dem Missverständnis basieren, dass Zusätze in der Governance automatisch zusätzliche Arbeit für einen bereits stark ausgelastetes Kreismitglied bedeuten.
  • Auch c) wurde präzisiert: „Das Bedenken existiert nicht schon vorher, selbst in Abwesenheit des Vorschlags. Daher würde spezifisch durch die Annahme des Vorschlags eine neue Spannung erzeugt werden.“ Hinzugefügt wurde „neue“.
  • Einwandsvoraussetzung d) verwendet jetzt stärker den Wortlaut der zugehörigen Testfrage selber in der Formulierung: „Der Vorschlag würde die Wirkung zwangsläufig verursachen, oder, falls er die Wirkung verursachen könnte, hätte der Kreis keine angemessene Möglichkeit anzupassen, bevor bedeutender Schaden entstehen könnte.“

4) dezentraler


Prozess der Ressourcenverteilung anstelle der Vergabe durch Kreis-Lead

Unter diese Kategorie fällt die oben bereits erwähnte Änderungen in Bezug auf Ressourcenverteilung. Hier hat der Kreis-Lead (ehemals „Lead Link“) nicht mehr die Standard-Befugnis, Ressourcen zuzuteilen. (Eine Domäne hatte er übrigens selbst in v 4.1 nie über Ressourcen). Anstelle dessen tritt der oben beschriebene Prozess in Kraft, bei der der Kreis-Lead lediglich noch Sonderbefugnisse in Bezug auf Eskalation und Rücknahme von Eskalation hat. Doch eine Rolle kann nun mit der Bekanntgabe ihrer Absicht, Geld auszugeben, vorangehen, und es ist am Kreis-Lead (oder anderen Role-Leads) einzuschreiten und aktiv zu werden, falls sie es für nicht sinnvoll erachten. Dies stellt die bisherige Dynamik auf den Kopf und fördert die dezentrale Verteilung von Handlungsbefugnissen.

Rollen dürfen sich eigenständig als Kreise organisieren

Wie oben schon beschrieben, darf sich jede Rolle fortan eigenständig entscheiden, sich intern als Kreis aufzustellen – es braucht dafür nicht mehr den Governance-Segen des sie beinhaltenden Kreises. Dies stärkt die dezentrale Entscheidungsautonomie.

5) menschlicher


Beziehungsvereinbarungen

Artikel 6 handelt von Menschen & Partnerstatus und beschreibt, wer ein Partner der Organisation werden kann und unter welchen Verpflichtungen. Außerdem führt der Artikel das Konstrukt der „Beziehungsvereinbarungen“ ein, welche Vereinbarungen zwischen Partnern darüber sind, wie sie sich gegenüber einander verhalten oder ihre generelle Funktion als Partner ausüben. Diese dürfen sowohl von Menschen an Menschen angefragt werden, als auch von Rollen an Menschen. Ein Moderator darf sich in Meetings auf diese Vereinbarungen beziehen.

Bei Hypoport haben wir bereits vorher durch die „OMG-Kreis“ Governance-App das als „Arbeitsvereinbarungen“ bezeichnete Konstrukt genutzt, welches aus einer Richtlinie des „People Circle“ von HolacracyOne übernommen wurde. Dieses ist nun unter neuem Namen Bestandteil der Verfassung geworden, was unter Verfassung 5.0 einen Teil der besagten Governance-App wieder überflüssig macht.

Richtlinien dürfen nur die Aspekte regeln, die der Organisation gehören. Menschen gehören ihr allerdings nicht. Beziehungsvereinbarungen hingegen erlauben es, Vereinbarungen darüber zu treffen, was unser Leben quasi ‚wundervoller‘ machen würde. „Dies sind Vereinbarungen darüber, wie die Partner in Beziehung zueinander stehen werden oder ihre generellen Funktionen als Partner erfüllen. Sie müssen sich darauf richten, Verhaltensweisen zu formen, welche die Arbeit generell unterstützen. Sie dürfen keine Erwartungen über Arbeit aufstellen, die in einer Rolle zu tun ist, noch Erwartungen darüber, wie ein Partner übergreifend zwischen verschiedenen Rollen priorisieren wird. Ferner dürfen sie nur konkrete, ausführbare Handlungen, oder zu beachtende Einschränkungen des Verhaltens bestimmen. Sie dürfen keine Versprechen enthalten, bestimmte Ergebnisse zu erreichen oder abstrakte Qualitäten zu verkörpern.“

Fazit


Verfassung 5.0 war lange in Arbeit und ist immer noch nicht final. Wenn Version 4.0 (ca. 2012) und Version 4.1, die 2015 erschienen ist, ein Maßstab sind, dann wird uns Version 5.0 wohl ebenfalls viele Jahre begleiten. Allein deswegen dürfte für Organisationen, die unter Version 4.1 arbeiten, mittelfristig ein Upgrade interessant sein. Wer neu mit Holakratie beginnt, sollte hingegen direkt mit 5.0 starten.

Der Umbau der Struktur in Regelmodule, die in plug-and-play-Manier angewendet werden können, ist zwar ziemlich revolutionär, muss sich allerdings noch in der Implementierungs-Praxis beweisen. Es gab nämlich einen Grund für die „Alles-oder-Nichts“ Haltung der Vergangenheit. Hier darf man gespannt auf die ersten Erfahrungen sein.

Die neue Verfassung ist flexibler, einfacher, klarer, dezentraler und menschlicher. Sie greift viele wichtige implizite Aspekte guter Praxis auf und macht sie endlich explizit. Insgesamt ist sie stromlinienförmiger und pragmatischer als Version 4.1. Manche Veränderungen in Richtung Flexibilität machen es leider auch möglich, eine schlechtere Praxis zu leben, weil Optimierungen, die für regelmäßig auftretende Einzelfälle gut sind, für Standardfälle schlecht sein können, z.B. die mögliche Besetzung von mehreren Kreis-Leads, die unter Umständen zu einer Verantwortungsdiffusion führen kann. Ob das eintreten wird, ist noch offen, aber in der Praxis muss sicherlich stärker darauf geachtet werden, ob die Freiheitszuwächse sinnvoll genutzt werden, oder ob sich dysfunktionale Muster einschleichen.

Dennoch bleibt sich die Holakratie-Praxis treu, weshalb die Veränderung weniger radikal sein wird, als der Wechsel von konventionellem Management zur Holakratie selbst. Zukünftige Veränderungen werden wahrscheinlich eher kosmetischer Natur sein, weil die Praxis und ihr Regelset sich asymptotisch ihrem Optimum nähern. Verfassung 5.0 bestätigt diese These. Ungeachtet dessen ist Holakratie eine robuste Alternative zu klassischem Management und das derzeit wohl ausgefeilteste System für Selbstorganisation.

Sollten Organisationen von v4.1 auf v5.0 wechseln?

Unsere derzeitige Einschätzung ist, dass sich ein “Upgrade” auf die neue Verfassung für Unternehmen mittelfristig lohnt, weil die neue Version – trotz kleinerer Aufwände zum Umlernen – interessante Verbesserungen bringt und vor allem klarer und einfacher gehalten ist. Einsteiger in die Praxis werden davon profitieren.

Zudem wird v5.0 wohl wieder mehrere Jahre stabil bleiben, bevor eine neue Version des holakratischen Regel-Sets zu erwarten ist. Wir empfehlen, nach dem offiziellen Release (der noch nicht erfolgt ist) ca. 1 Jahr zu warten, um zu etwaige Nachjustierungen, die durch Praxiserfahrungen aus der Community entstehen könnten, mitzunehmen (vielleicht ein v5.1 Release).

Ein “Soft-Launch” ist ebenfalls möglich, indem man graduell die geänderten Begrifflichkeit übernimmt und einige der in v5.0 enthaltenen Richtlinien und Prozesse (z.B. Ressourcenverteilung, Domänenzugriff) via Anker-Kreis-Richtlinie als Governance-App installiert. So kann man den Boden bereiten für den kompletten Wechsel.


PS: das Konzept von “Cross-Cutting-Circles”, das in dem obigen Clip aus 2019 diskutiert wird, wurde mittlerweile wieder aus der Verfassung gestrichen


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